Na, hat Sie das – schon an dieser Stelle bereits mehrfacht genutzte – Wort Digitalisierung neugierig auf die Lektüre dieses Artikels gemacht? Dann habe ich mein erstes Ziel ja schon erreicht und Sie Ihr Interesse geweckt.
Keine Angst – es erwartet Sie nicht der 43.765 Artikel mit Hilfestellungen dazu, wie Sie dank der #Digitalisierung (Achtung, wichtiger Hashtag!) Superkräfte erlangen, magische Fähigkeiten entwickeln oder plötzlich über das Wasser laufen können. Es erwartet Sie vielmehr eine kritische Auseinandersetzung mit dem „Buzzword-Bingo“ im Umfeld veränderter gesellschaftlicher und unternehmensrelevanter Ausgangssituationen.
Seit einiger Zeit wird eine sprichwörtlich neue Sau durch das Dorf der Öffentlichkeit getrieben: Die allgegenwärtige Digitalisierung! Als Schreckgespenst und Heilsbringer zugleich, bietet sie den einen Chancen und bedroht die anderen. Sie schwebt über allen Branchen und Bereichen – und ist doch stets wenig greifbar. Um Missverständnissen vorzubeugen: Ja, auch ich nutze das Schlagwort gerne und mit Überzeugung – allerdings im passenden Rahmen. Wie dieser aussieht? Nur Geduld, das kläre ich am Ende auf.
Seit einiger Zeit wird eine sprichwörtlich neue Sau durch das Dorf der Öffentlichkeit getrieben: Die allgegenwärtige Digitalisierung!
Thomas Kuckelkorn
Was ist Digitalisierung – und was nicht?
Was ist Digitalisierung überhaupt? Ich bin Kommunikationswissenschaftler, also nähern wir uns dem Phänomen doch einmal sprachlich an. Der gute, alte Duden antwortet: Digitalisierung ist das Substantiv des Verbs digitalisieren. Das wiederum bedeutet: a) Daten und Informationen digital darstellen und/oder b)ein analoges Signal in ein digitales umwandeln. So weit, so schlecht. Denn aus kommunikativer Sicht deutet hier alles auf den rein technischen Aspekt einer bestimmten Transformation hin, eine simple „Computerisierung“. Analoge Daten bzw. Informationen werden von Zustand 1 nach Zustand 2 überführt. Das hat durchaus Relevanz, da Digitales dem Analogen heutzutage grundsätzlich überlegen ist. Eine digitale Sammlung von Fotografien auf einem Datenspeicher nutzt bei häufiger Verwendung und fortschreitender Zeit nicht ab, wohl aber das klassische Fotoalbum. Wer sich ein bisschen mit der deutschen Geschichte auskennt, der weiß: diese simple Betrachtungsweise von Digitalisierung ist eigentlich ein alter Hut – wurde das erste Dualsystem doch schließlich schon Anfang des 18. Jahrhunderts von Gottfried Wilhelm Leibniz entwickelt. Hinter dem Phänomen Digitalisierung muss also deutlich mehr stecken.
Ein Kind mit vielen Namen
Die erfolgreiche Nutzung von Sprache zur mehrseitigen Kommunikation bedingt immer der Einbettung in einen Kontext – und allgemeiner gesellschaftlicher Konventionen, wie schon Wittgensteins Untersuchungen gezeigt haben. Heute sind wir über die simple technische Umwandlung von analog nach digital weit hinaus. Sprechen wir also alle die gleiche Sprache, wenn von Digitalisierung die Rede ist? Vielleicht liegt genau hier das eigentliche Problem: Alle reden über etwas und keiner weiß, was eigentlich gemeint ist. Berater sprechen von Digitalisierung und meinen ihre Tools und Services zur Effizienzsteigerung und Kostensenkung. Marketing-Agenturen raten ihren Kunden, die Digitalisierung ernst zu nehmen – und meinen damit die Nutzung von Kommunikationskanälen wie Website, Social Media usw. IT-Hersteller produzieren Produkte und Lösungen für sämtliche Anwendungsbereiche und helfen ihren Kunden damit bei der Umsetzung der Digitalisierung. Politiker sprechen von selbiger, meinen aber den deutschlandweiten Ausbau der Breitband-Infrastruktur und die gesellschaftliche Akzeptanz einer neuen, oft nicht näher definierten Alltagssituation.
Sprechen wir alle die gleiche Sprache, wenn von Digitalisierung die Rede ist? Vielleicht liegt genau hier das eigentliche Problem: Alle reden über etwas und keiner weiß, was eigentlich gemeint ist.
Thomas Kuckelkorn
Digitalisierung ist mehr als Computerisierung!
Verwirrend, oder? Wo also ist die soziale Übereinkunft darüber, was Digitalisierung heute bedeutet? Warum wird der Begriff Digitalisierung dennoch regelmäßig genutzt? Ist er trotz alledem passend? Vermutlich nicht – anderenfalls würden weitere Vertreter des „Buzzword-Bingos“, wie digitale Revolution, Industrie 4.0, digitaler Wandel, Internet of Things, digitale Transformation usw., nicht ständig simultan genutzt werden. Im modernen Informationszeitalter steht Digitalisierung auch für die Optimierung und Automatisierung von Prozessen sowie für veränderte und neue Geschäftsmodelle und die Vernetzung von digitalen Technologien, Menschen und Informationen. Instinktiv nimmt man diese definitorische Annäherung selbst oft schon vor, ohne dass es einen allgemeingültig nutzbaren Konsens dazu gibt. Das Problem daran ist: der Kontext wird bei jeder individuellen Nutzung selbst gesetzt.
Neue Regeln
Was ist überhaupt der Bezugsrahmen? Wir leben in hochdynamischen Zeiten. Die Grenzen der alten Welt – hier Softwarefirmen, da klassische Industrieunternehmen – verschwimmen zusehends. So zeigen die Beispiele des Flugzeugbauers Boing und des Mischkonzerns General Electric, dass die Digitalisierung im Allgemeinen und Softwareinnovationen im Speziellen genutzt werden, um neue Geschäftsfelder zu erschließen. Traditionelles Schwarz-Weiß-Denken und damit die eindeutige Einordnung eines Unternehmens nach althergebrachten Mustern gehören der Vergangenheit an. Wir erleben heute immer mehr, wie ambitionierte Startups verschiedenste Märkte mit disruptiven Geschäftsmodellen durcheinanderwirbeln, indem sie die Möglichkeiten der Digitalisierung für sich nutzen und ihr Geschäftsmodell entsprechend der Ansprüche und Bedarfe ihrer Kunden auf Plattformbasis modellieren. Moderne Unternehmen ruhen sich nicht auf ihren Lorbeeren aus, sondern prüfen stets ihre in der Vergangenheit erfolgreichen Strategien auf Nachhaltigkeit. Das bedeutet aber auch, sich möglicherweise von lange bewährten Denkmustern, Prozessen und Methoden zu lösen und sich neuen Handlungsfeldern zu öffnen.
Digitalisierung ist Denken und Handeln im breiteren Kontext!
Was also „unterstellen“ wir alle instinktiv, wenn wir über Digitalisierung reden? Was zeichnet sie aus? Sprechen wir also über Digitalisierung, dann ist ein gemeinsamer Kommunikationskontext unabdingbar. Dieser geht jedoch weit über den rein technischen Aspekt hinaus. Technologie alleine bringt keinen Fortschritt. Uns allen muss klar sein, dass stets technologische, organisatorische und gesellschaftliche Facetten gleichermaßen betrachtet werden sollten. Mit der IT und – zum nicht unerheblichen Teil – auch dank der IT – sicherlich aber nicht nur durch die IT, denn Digitalisierung ist Denken und Handeln im breiteren Kontext! Dann können Sie zwar immer noch nicht über Wasser laufen, aber geeignete Brücken bauen.